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Anthroposophie und die Fortbildung der Religion

Wolfgang Gädeke

ISBN: 978-3-926841-23-0
Einband:
Informationen: 448 Seiten
Inhaltsverzeichnis: Download als PDF
Preis: 19,00 €

Kurzbeschreibung

 

In dieser Studie wird erstmals der Religionsbegriff der Anthroposophie anhand der Schriften und Vorträge Rudolf Steiners dargestellt und der Unterschied zwischen anthroposophischem Erkenntnisweg einerseits und der religiösen Übung in Gebet und Kultus andererseits herausgearbeitet. Es wird erkennbar gemacht, wie sich die Anthroposophie als Geisteswissenschaft zur Religion im allgemeinen und zum Christentum im besonderen verhält. Daraus wird deutlich, wie es zur Gründung einer neuen Kirche, der Christengemeinschaft, mit der Hilfe und dem Rat Rudolf Steiners gekommen ist. Die letzten Kapitel erhellen das bis heute von vielen Fragen überschattete Verhältnis von anthroposophischer Bewegung und Gesellschaft einerseits und Christengemeinschaft andererseits.

 

 

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Rezension in: Mitteilungen aus der anthroposophischen Arbeit in Deutschland, Ausgabe Johanni, II/1991, Nr.176
  Rezensent: Nikolaus Nölle, Hamburg

 

Den drei Autoren ist herzlicher Dank zu sagen für den großen Fleiß, den sie zur Zusammenstellung überlieferter Aussagen Rudolf Steiners zum Fragen-Komplex Anthroposophie und Religion geleistet haben. Sofern Wert darauf gelegt wird, derartige mehr oder weniger gut erhaltene Aussagen in größtmöglichem Umfange auf sich wirken zu lassen, bietet das Buch hierzu reichhaltige Gelegenheit. Das diesbezügliche Wissen wird erweitert. Und dies sollte nicht unterschätzt werden.
 

Was kann aber mit Wissen aus Büchern praktisch gewonnen sein, wenn es sich einerseits um Anthroposophie und andererseits um Religion handelt? Tritt die Seele, die sich lediglich am gedruckten Buchstaben orientiert, nicht in ein mohammedanisches Fahrwasser? Selbstverständlich ist zu wissen, - was z.B. im Koran oder in „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ steht. Ist es aber Absicht des letztgenannten Buches, das Wissen zu erweitern? Will es nicht viel mehr anregen, die Seele seines Lesers im Denken, Fühlen und Wollen zu bestätigen?
 

Über die Entstehung der Anthroposophie und die der „Bewegung für religiöse Erneuerung“ kann man gar nicht genug wissen - wenn man sie lieb hat. Von dem, was man liebt, darf man alles wissen. Aber dieses Wissen geht spätestens wenige Tage nach dem Tode verloren. Bestand – und damit Bedeutung für die Welt – hat lediglich die Mühe, die die Seele beim Erwerb des Wissens aufgewendet hat. Ebenso ist es mit dem Buche „Die Geheimwissenschaft im Umriß“. Sein Autor hat absichtlich eine spezielle und schwierige Stilisierung vorgenommen, wie er in dem letzten Vorwort vom 10. Januar 1925 erläutert.
 

Eine über die Erweiterung des Wissens hinausgehende Wirkung geht aber von dem Buche „Anthroposophie und die Fortbildung der Religion“ kaum aus. Die in seinen letzten Kapiteln enthaltenen Zusammenfassungen erwecken den Anschein, als wenn mit ihnen die Auswirkung der Anthroposophie auf die Religion erfaßt seien. Diese besteht aber weniger im Wissen als im vollen Leben der Menschenseele. Die Werke Rudolf Steiners und der Kultus der Christengemeinschaft laden – ihrer jeweiligen Zielsetzung entsprechend – zu Seelentätigkeiten ein, die weit über das Wissen hinausgehen.
 

Es ist sogar schwierig und zeitaufwendig, beispielsweise etwas vom Kultus der Christengemeinschaft zu wissen. Um die verschiedenen Aussagen der Menschenweihehandlung auch nur einmal zu hören, benötigt man bekanntlich ein ganzes Jahr. Solcherart veranlagte Wissenskeime werden oftmals geprägt durch den persönlichen Eindruck, den der nach Orientierung Suchende von dieser oder jener Pfarrer- oder Anthroposophen-Persönlichkeit empfängt, der er, seinem Schicksal folgend, in diesem Erdenleben begegnet. Will er aber ein eigenständiges, souveränes Verhältnis zur Anthroposophie oder zur „Bewegung für religiöse Erneuerung“ oder gar zu beiden aufbauen, wird er in seiner eigenen Seele die Inhalte, die sie bieten, zu praktizieren haben - sie gleichsam in sich selbst erproben müssen. Er wird so, die für ihn in diesem Erdenleben gültige Erfahrung machen, ob und inwiefern sein Bemühen ihm nahebringt, bewußt mit allen Konsequenzen am Kultus der Christengemeinschaft teilzunehmen oder nicht, oder ob z.B. sein Umgang mit der Menschenweihehandlung ihn dazu aufruft, die Anthroposophie zu ergreifen und vor der Welt zu vertreten.
 

Erst das aus Seelenkämpfen – nicht aus Büchern – gewonnene „Wissen“ kann die Tatsache würdigen, daß Anthroposophie belebende Wirkung auf die „Fortbildung der Religion“ auszuüben vermag. Es kann dann erfahren werden, daß es sich letztlich gar nicht um die eigene Seele handelt, sondern vielmehr darum, daß sowohl die Anthroposophie als auch der durch sie vermittelte christliche Kultus bei Menschen der jeweiligen Gegenwart anfragen, ob sie in ihren Seelen eine Heimstätte auf Erden finden können. Werden diese „Anfragen“ in der Seele lebendig erfahren, kann von demjenigen, was uns an Darlegungen Rudolf Steiners – trotz der Fragwürdigkeit aller nachgeschriebenen, nicht vom Autor durchgesehenen Texte – überliefert ist, gar nicht genug gewußt werden. Hierfür wiederum leistet das Buch der Brüder Gädeke seinen Beitrag.

 

Rezension in: Wege 5/1990
  Rezensent: Anton Kimpfler

 

Das Buch ging durch die Stuttgarter und Dornacher Stellen sowie mehrere Verlage. Niemand aber wagte es herauszubringen. Doch war eine Verbindung zu Leuten der Flensburger Hefte da, ja schon zum Vorgänger dieser Zeitschrift. Und nun kam die Schrift „Anthroposophie und die Fortbildung der Religion“ auch im dortigen Verlag heraus. Verfasser ist Wolfgang Gädeke, unterstützt von seinen Brüdern Johannes Wilhelm und Rudolf. Mit dabei sind verschiedene Zitate aus Zusammenhängen der Christengemeinschaft, wenn auch in indirekter Rede wiedergegeben. Aber das scheint einigen Leuten immer noch nicht zu passen, obwohl sich aus Holland längst Fremddrucke von Kursen Rudolf Steiners für deren Priester besorgen lassen.
 

In dem genannten Buch ist sehr ausführlich mit überwiegenden Zitierungen ausgebreitet, was Rudolf Steiner alles zum Thema Religion ausgesagt hat. Einerseits kann ohne Geisteswissenschaft vieles gar nicht verstanden werden, beispielsweise das Mysterium von Golgatha im engeren Sinne. Zum anderen aber sind die Grundlagen der Anthroposophie so geartet, daß jeder ein religiöses Bedürfnis entwickelt, der sich mit ihnen eingehender beschäftigt.
 

Was die esoterische Vertiefung des geisteswissenschaftlichen Arbeitens betrifft, kann von hier aus direkt – und ohne jede sonstige Religionszugehörigkeit – der Drang nach kultischen Formen entstehen. Allerdings wird sich allmählich die besondere Stellung des Christentums verdeutlichen.
 

Ganz unabhängig vom persönlichen Entwicklungsstand kann jeder über eine Messe oder die Menschenweihehandlung an entsprechenden Geschehnissen teilnehmen – was eine große Bedeutung hat für die Erde und die geistige Welt. Da müßte vieles darben, wenn nur darauf zu warten wäre, bis ein rein geisteswissenschaftliches Kultusgeschehen wieder weit genug vorangeschritten ist, welches ja mit dem Tode Rudolf Steiners, aber auch schon vorher durch Vorgänge um den ersten Weltkrieg starke Einbrüche erfuhr.
 

Wohl gerade deshalb, weil es sehr tiefe Übereinstimmung gibt, ist es im Äußeren so schwierig, anthroposophische Bestrebungen und die Christengemeinschaft in ein gesundes Verhältnis zueinander zu bringen. Von Rudolf Steiner kamen auch etwas widersprüchliche Äußerungen dazu, welche die genannte Schrift möglichst vielseitig anzuschauen versucht. Auf der irdischen Ebene wird ein getrenntes Nebeneinander sinnvoll sein, wenngleich jeder geisteswissenschaftlich bemühte Mensch zugleich mitwirken kann in mehr religiöser Richtung. Er sollte das aber nicht mit irgendwelchen Ansprüchen verknüpfen, genausowenig wie das Teilnehmen an einem kirchlichen Gemeindeleben selber zu einer zwingenden Verpflichtung werden darf.

 

Rezension in: GEGENWART 3/4 1990
  Rezensent: Michael Loeckle
 

Religion als Mumie oder geistige Wirksamkeit?
  Angesichts einer immer mehr zunehmenden Entfremdung und Abwendung von Religion und Kirche erscheint die umfangreiche Studie "Anthroposophie und die Fortbildung der Religion" der Gebrüder J. Wilhelm, Rudolf und Wolfgang Gädeke, die als Pfarrer der Christengemeinschaft und z.T. auch als Dozenten am Stuttgarter Priesterseminar tätig sind, als ein wesentlicher Beitrag zur Frage des Religionsbegriffs der Anthroposophie bzw. der anthroposophischen Christologie.
 

Daß die Autoren dennoch eine "siebenjährige Odyssee durch Institutionen und Verlagshäuser" bewältigen mußten und ihr Manuskript schließlich von drei führenden anthroposophischen Verlagen abgelehnt wurde, mag gerade wegen der sozialen Bedeutung dieser Thematik befremden.
 

Rudolf Steiner hat vielfach auf die notwendige Integration von Wissenschaft, Kunst und Religion hingewiesen, wobei sein Ausgangspunkt immer das Denken ist. Anthroposophische Forschungsergebnisse sollen gedacht und erkannt und nicht auf Autorität hin angenommen werden.
 

Durch die Erneuerung der Mysterien soll nun die erst mit dem Ende der atlantischen Zeit entstandene Religion zu einem zeitgemäßen christlich-spiritualisierenden Kulturfaktor werden, der alle Lebensbereiche sakramentalisieren möchte. Die Anthroposophie liefert die dazu erforderlichen Erkenntnisgrundlagen, indem sie z.B. eine dem Zeitbewußtsein entsprechende Exegetik der religiösen Urkunden und ihrer aktuellen Bedeutung ermöglicht.
 

Von dem Mysterium von Golgatha als dem Zentralereignis der Menschheit und der Evolution ausgehend wird das Christentum als "größer als alle Religionen" verstanden, indem es in allen vorchristlichen Religionen vorbereitet wurde und solche Bekenntnisse nur für bestimmte Völker, Rassen und Klimazonen geschaffen wurden. Schließlich hat allein das Christentum die Fähigkeit, das Ende aller Glaubensreligionen zu überstehen und Weisheitsreligion zu werden, weil in ihm eine lebendige fortentwickelte Anschauung der geistigen Welt und der menschlichen Freiheit und Individuationsfähigkeit enthalten ist.
 

Die heutigen Reflexionsformen über Religionsinhalte sind materialistisch-egoistisch dogmatisiert und monopolisiert, während die religiösen Handlungen zu Mumien, zum magischen Hokuspokus erstorben sind, in dem weder der Geist noch eine soziale Wirksamkeit lebt. Der Zusammenhang von geistiger und irdischer Welt, das vorgeburtliche Leben des Menschen und das Mysterium von Golgatha können mit den Mitteln der heutigen Kirchen nicht mehr erklärt werden. "Die Kirchenbekenntnisse haben es geradezu zu ihrer Mission gemacht, dem Menschen wichtige Wahrheiten über sich selbst vorzuenthalten. Diese kirchlichen Bekenntnisse haben damit ihr Mittel gefunden, die Menschen einzuhüllen in Dumpfheit, in Illusion." (GA 191, S.185).
 

Der neue christlich-johanneische Kultus der Menschenweihehandlung möchte indessen das Werk der Reformation fortsetzen und gibt der freien Persönlichkeit des Menschen die überpersönliche Substanz wieder, die der Protestantismus verloren hatte.
 

Die Anthroposophie selber ist keine Religion, aber ein "Werkzeug für das religiöse Leben", sie "beginnt mit Wissenschaft, belebt ihre Vorstellungen künstlerisch und endet mit religiöser Vertiefung." (GA 257, S.46). Sie ist gleichzeitig "mit all ihren Einzelheiten ein Götter-, ein Gottesdienst" (GA 260, S.30) i.S. eines Dienstes der Götter am Menschen (R. Gädeke).
 

Rudolf Steiner sah im Gegensatz zur katholischen Religionsauffassung in der spirituellen Erkenntnis die eigentliche geistige Kommunion der Menschheit: Transsubstantiation durch Vereinigung mit dem Geist im Erkennen. Zu dieser "kosmischen Kommunion" fügte er als Teil der anthroposophischen Gemeinschaftsbildung einen "umgekehrten Kultus" hinzu, durch den "der Mensch am Geistig-Seelischen des anderen Menschen erst erwacht."
 

Der kosmische Kultus wird vom Erkennenden vollzogen, während der umgekehrte Kultus die Menschen durch den gemeinsamen Umgang mit dem Geistigen zur Geistgemeinschaft erhebt.
 

In der Durchdringung und Zusammenfügung von Wahrnehmung und Begriff gelangt der Mensch zur Idee und erst "das Gewahrwerden der Idee in der Wirklichkeit ist die wahre Kommunion des Menschen" (GA1). So wird die Kommunikation mit dem trinitarischen Leben in den tellurischen, planetarischen und zodiakalischen Sphären zur Unio sacramentalis mit den Weltgedanken der Hierarchien. Die Spiritualisierung des Erkenntnislebens zum Weltenkultus und zur kosmischen Kommunion ist daher ein zentrales Anliegen der Anthroposophie.
 
 

Sterne sprachen einst zu Menschen,
  Ihr Verstummen ist Weltenschicksal;
  Des Verstummens Wahrnehmung
  Kann Leid sein des Erdenmenschen;
 
  In der stummen Stille aber reift,
  was Menschen sprechen zu Sternen;
  Ihres Sprechens Wahrnehmung
  Kann Kraft werden des Geistesmenschen. (GA 40)
 
 

Der kosmische Kultus kann vom einzelnen an der mikro-makrokosmischen Alchimie der Jahreszeiten erübt werden durch die 52 Wochensprüche Rudolf Steiners, die 12 Tierkreisstimmungen, die 12 Monatstugenden, die beiden Jahresatemzüge der Erdenseele mit der die Erde durchdringenden Christus-Sphäre und durch das Bewußtsein des Erzengelwirkens in den vier kosmischen Erzengelimaginationen. Der Grund der Religion liegt eo ipso in der menschlichen Natur, und "eine Seele, die vermeint, ohne Religion leben zu können, ist in einer schweren Selbsttäuschung befangen", denn "die Seele verdorrt, verödet und vereinsamt, wenn sie nicht glauben kann." (GA 130, S.172 f.). Was die Nahrung für den physischen Leib bedeutet, ist der Glaube für den Astralleib. Rudolf Steiner hat sich über die Bedeutung religiöser Übungen und ihrer Wirkungen mehrfach geäußert. Er selbst hat während seiner letzten Lebensmonate auf dem Krankenlager täglich das Pater noster in lat. Sprache gebetet, "und zwar so kräftig, daß es Menschen in der Schreinerei durch die Türen seines Ateliers gehört haben" (S.177).
 

Der Kultus des Meßopfers ist eine kontinuierliche Fortentwicklung der Mithrasmysterien; er ist das Bild eines geistigen Geschehens, das mit dem Kultusvollzug in Zeichen und Symbol in das Irdische hineinragt. So kommt im Urkultus der Menschheit, im christlichen Abendmahl, die Durchdringung und Durchchristung der Materie mit Geist zum Ausdruck. Durch den Kultus pflanzt der Christus dem Menschen den Keim des vergeistigten Ätherleibes ein, der wiederum die Grundlage seiner Denkfähigkeit bildet.
 

Vom Herbst 1916 an gab Rudolf Steiner Hinweise darauf, "daß aus der Anthroposophie eine neue Form religiöser Übung durch Kultus hervorgehen kann und soll, auch für diejenigen Menschen, die bereits zur Geisterkenntnis gefunden haben." Der moderne Kultus müsse wieder Kultusformen finden, denn ohne Formen gebe es keine Kultur. Die Anthroposophie selber werde den Menschen wieder zum Religiösen und zur praktischen Religionsübung hinführen.
 

Obwohl die für die Neubegründung von Kulturgemeinden erforderlichen Fragen an Rudolf Steiner zunächst nicht gestellt wurden, auch nicht von Friedrich Rittelmeyer, konnten doch ab 1920/21 die Grundlagen für die Konstituierung der Christengemeinschaft geschaffen werden. Hierbei verstand sich Rudolf Steiner nicht als Begründer, sondern als Helfer und Ratender, ja als Vermittler dieses "Kultus aus der geistigen Welt heraus". Die seinerzeitige Begründung der Christengemeinschaft fiel allerdings in eine kritische Phase der Anthroposophischen Gesellschaft (AG). So wurden die Mitglieder der AG trotz einer entsprechenden Weisung Rudolf Steiners an den Vorstand nicht informiert über diesen wesentlichen Schritt der anthroposophischen Bewegung. Eine allgemeine Konfusion entstand zudem durch das mißverstandene Wort Michael Bauers von der Christengemeinschaft als der "Krone der Anthroposophie". Auch Rudolf Steiners erforderlich gewordener Vortrag vom 30.12.1922 (GA 219) führte zu Mißverständnissen, insbesondere unter den Priestern.
 

Rudolf Steiner verlangte das Verhältnis von Anthroposophischer Gesellschaft und Christengemeinschaft als innerlich zusammengehörende, weil aus der gleichen Quelle stammende Bewegungen die jedoch getrennte Gemeinschaften bilden müßten, weil für die Zugehörigkeit zu jeder der beiden ein gesonderter freier Entschluß des einzelnen Menschen erforderlich sei. "Anthroposophie knüpft an das Erkenntnisbedürfnis, die Christengemeinschaft an das Auferstehungsbedürfnis im Menschen an." (F. Rittelmeyer); aber beide Bewegungen greifen ineinander über, beide sind Michael-Bewegungen und dienen diesem Zeitgeist. Die Christengemeinschaft sollte souverän und autonom, nicht etwa eine "Kirche der Anthroposophie" sein. Zu berücksichtigen sind auch die unterschiedlichen karmischen Strömungen in der Anthroposophischen Gesellschaft hinsichtlich der Beziehungen zur christlichen Kirche. "Man kann sich ja auch gut vorstellen, daß Seelen, die unter früheren kirchlichen Formen des Christentums gelitten haben, wie viele sogenannte "Ketzer" und "Heiden", zwar in dieser Inkarnation einen tiefen Drang nach Anthroposophie, aber keine Neigung zu einer christlichen Kirche und Religionspraxis haben." (S.353)
 

Im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen der beiden Bewegungen sprach man später auch von einer Kains- (AG) und Abelströmung. Rudolf Steiner hat selber bei Taufen, Trauungen und Bestattungen mitgewirkt und zur praktischen Zusammenarbeit beider Gemeinschaften beigetragen. Er empfahl den nach Ritualen und Kultushandlungen für die Heilung des sozialen Lebens fragenden Anthroposophen, sich an die Christengemeinschaft zu wenden, in der er einen wesentlichen Teil der erneuerten Mysterien sah. Er empfand die Priester selbstverständlich als Repräsentanten der Anthroposophie und nahm sie alle in die Erste Klasse der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft auf.
 

Das Zusammenleben der Menschen im sozialen Organismus verlangt ohne Zweifel nach Religion, nach kultischen Formen der Verehrung des Göttlichen, denn "wenn der Mensch den Umgang mit den Göttern verliert, verliert er auch den Umgang mit den Menschen" (GA 198, S.278). Durch den Kultus der Christengemeinschaft wird das Übersinnliche in Wort und Handlung heruntergeholt in die physische Welt. Durch den anthroposophischen Zweig werden die Gedanken und Empfindungen hinaufgehoben in die übersinnliche Welt. Der umgekehrte Kultus in einem Zweig ist der andere Pol des Kultes in der Christengemeinschaft. "Man möchte sagen, wenn man bildlich sprechen will: die Kultgemeinde versucht, die Engel des Himmels zu veranlassen, herunterzugehen in den Kultraum, damit sie unter den Menschen seien. Die anthroposophische Gemeinde versucht, die Menschenseelen zu erheben in die übersinnliche Welt, damit sie unter die Engel kommen. Das ist in beiden das gemeinschaftsbildende Element" (GA 257, S.179)
 

Die zweifellos verdienstvolle Arbeit der Gebrüder Gädeke bringt Licht in das z.T. arg getrübte Verhältnis zwischen Anthroposophie und Christengemeinschaft. Immerhin soll, worauf F. Götte in seinen Marginalien/Thesen/Fragen (1983, MS) hinweist, nach dem Krieg von Priesterseite versucht worden sein, Marie Steiner zur Eliminierung des Vortrages vom 30.12.22 aus dem GA-219-Zyklus zu bewegen. Noch 1984 wurde von der Hamburger Priesterschaft allen Ernstes die Frage diskutiert, "ob Priester Anthroposophen ein Begräbnis verweigern sollen, das mit dem Ritus der Christengemeinschaft begleitet wird." (Erde & Kosmos 3.84, S.71).
 

Auch sollte kein Zweifel daran bestehen, daß die Wirkung des in der Christengemeinschaft zelebrierten Kultus von der Erkenntnisarbeit abhängt, die auf anthroposophischen Gebiet geleistet wird. Martin und Albrecht Hüttig verweisen daher zu Recht auf den desolaten Zustand der AG nach der gescheiterten Weihnachtstagung und den daraus resultierenden und z.T. bis heute andauernden Konflikten zwischen "Mutter" und Tochterbewegung. In ihrer Dokumentation (Reutlingen 1986) schlagen sie daher eine Reorganisation der AG vor, um das Nivellement zwischen AG und Christengemeinschaft aufzuheben.
 

Leider sind die Arbeiten von Götte, Hüttig, Wimbauer u.a. zum Verhältnis zwischen AG und Christengemeinschaft in der Gädeke-Studie nicht erwähnt. Dennoch ist dieses fundierte Buch als ein bedeutender Versuch zur Konsolidierung der genannten Verhältnisse zu werten und dementsprechend sehr zu empfehlen.

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